rafael toral
Nach vielen Jahren des Experimentierens mit selbstgebauten elektronischen Geräten kehrt der portugiesische Musiker Rafael Toral zu seiner Gitarre zurück und präsentiert mit dem dreiviertelstündigen Track Spectral Evolution ein Ambient-Werk, das von feinfühliger Drone-Musik und stilvollem Vintage-Jazz geprägt ist. Subtile, tiefgreifende Klänge finden sich auf Spectral Evolution, das eigentlich eine zwölfteilige Suite mit unterschiedlichen Teilen ist: Wird das Album in der Mitte gefaltet, trifft jeder Abschnitt auf sein Gegenstück: Changes und Changes Reprise, Descending und Ascending, First Short Space und Second Short Space. Und dazwischen liedartige Formen und Harmoniefolgen, die in dieser cinematischen Struktur aufgehen und wohlig erklingen. Ein Werk, ein Künstler, der von der Presse hochgelobt wird. Pitchfork zum Beispiel meint, mit grossem Referenzaufgebot: «Each new release dissolved a bit more of Brian Eno’s long ambient tones into My Bloody Valentine’s rapturous haze until Toral’s sound faded into the stratosphere.» Well, über dreissig Jahre hat Rafael Toral seine «post-free jazz electronic music» weiterentwickelt und Konventionen herausgefordert – wer mehr über Torals Schaffen erfahren möchte, findet in diesem Artikel auf Bandcamp Daily einen schönen Einblick – und damit dem Ambient- wie auch dem Jazz-Genre einen Bärendienst erwiesen: Toral schafft es beeindruckend akustische Komplexität in eine verständliche Sprache zu übersetzen.
selvhenter
Die Musik der Kopenhagener Noise-Free-Rock-Band Selvhenter sprengt die Grenzen zwischen den Genres und stürzt sich stattdessen in etwas viel Elementareres. Seit sie sich 2010 zusammengefunden haben, haben die Schlagzeuger Jaleh Negari und Anja Jacobsen, die Saxophonistin Sonja LaBianca und die Posaunistin Maria Bertel dies durch ihren einzigartigen instrumentalen Ansatz des Musikmachens erreicht. Fünfzehn Jahre später ernten sie die Früchte ihres unkonventionellen Denkens, wie auf dem aktuellen Album „Mesmerizer“ zu hören ist, einer zielgerichteten, pulsierenden Sammlung von Songs, die sich nur Selvhenter ausdenken konnten.
kiss facility
Ihr Erscheinen auf der Bühne ist ein glänzendes Fest der Fulminanz und ihre Stimme ein einziger Wolkentraum: Kiss Facility heisst das Projekt von Mayah Alkhateri zusammen mit Kreativpartner Salvador Navarrete, den meisten wohl als Sega Bodega bekannt. Alkhateris emiratische und ägyptische Herkunft klingt durch die Musik hindurch und lässt sie Shoegaze mit arabischen Elementen verbinden. Navarretes langjährige Erfahrung als Musikproduzent und sein unerschöpfliches Potenzial zu Arrangements, die er entweder aus dem Ärmel zaubert oder als Abwandlungen von bereits bestehenden Songs neuauflegt, macht aus dem Projekt eine perfekte Symbiose, wie sich zum Beispiel im Coversong Malket Gamal El Kowan zeigt. Kiss Facility ist dabei die Verkörperung einer Rückeroberung von Identität, Weiblichkeit und Herkunft und trifft nicht nur zuhause aufgedreht direkt in alle Organe, sondern gerade auch live, wenn dieses sagenhafte Duo die Bühne betritt.
2k88
Im polnischen Underground scheint sich Einiges zu bewegen. Inmitten des Flusses steht 2K88, Musikproduzent, Grafikdesigner und Audioregisseur aus Gdynia, der mit Hip-Hop-Klassikern aus den 1990er Jahren aufgewachsen ist und mit diesen Einflüssen einen gänzlich neuen furiosen Sound kreiert. Als PL Sound betiltet kommen darin polnischer Hip Hop und Bass Music aus den UK zusammen, die in dieser Formation die Paranoia und sozialen wie auch urbanen Umstände des post-kommunistischen Polens zum Ausdruck bringen. Während er anfangs mehr gerappt hat und die Nähe zum Hip Hop damit eher gegeben war, hat er sich in der letzten Zeit tiefer der textlosen Sphäre der elektronischen Musik zugewandt – eine Entwicklung, die nachvollziehbarer ist, als man meinen könnte. Als musikalisches Powerhouse ist 2K88 auch aktiv beim Krakauer Label Unsound, das ein Ableger des gleichnamigen Festivals ist.
el kontessa (DJ-Set)
Nichts für Purist*innen oder anderweitig all zu gut sortierte Fundis. Aber alles für das horizonterweiternde Miteinander. Fajr Soliman, die in Kairo beheimatete DJ, Produzentin und multidisziplinär arbeitende bildende Künstlerin, schraubt als El Kontessa an den Knöpfen, bis die Melodie mal wie eine durchgeknallte Jahrmarktsorgel tönt. Darüber legt sie orientierungslose Vocals, galoppierende Darbukas und tief fliegende, teils unterirdisch wummernde Synthesizer-Teppiche. Oder da: Ein Jungle Beat zersägt das romantisch-triefende, hunderttausendmal gehörte Piano-Sample. Über diesem klug collagierten und tanzbaren Experiment aus Pop, Mahraganat (oder Shaabi-Electro) und Gqom flirrt immer ein klangliches Destillat ihrer Heimatstadt mit: El Kontessas Musik legt Fährten quer über den Globus und findet immer wieder zurück in die Subkultur Kairos.